KRAAN
Was wäre die Geschichte der deutschen Rockmusik ohne Kraan? Zweifelsohne
nicht nur unvollständig, sondern vor allem um ein besonders buntes, höchst
kreatives Kapitel ärmer.
Kraan verschrieben sich von Beginn ihrer Karriere an einer spannenden Fusion
aus Rock, Jazz und Ethno-Einflüssen und fügten ihrem Sound später
US-Mainstream- und Soul-Elemente hinzu. Ihren Stil nannten sie kurz und ergreifend
´Wintrup Musik`, benannt nach ihrem Domizil im Teutoburger Wald. Eine
kleine Erbschaft im Mai 1970 war quasi die Initialzündung der Band. Die
vier Ur-´Kraaniche` Peter Wolbrandt, Jan Fride, Hellmut Hattler und Alto
Pappert warfen ihr Geld zusammen und kauften sich eine Anlage plus einen Bandbus.
Ihr Debütalbum nahmen sie in einer 2-tägigen (!) Studiosession auf
und pflegten auch sonst den Hang zur Spontaneität. Die Galionsfiguren bei
Kraan waren Bassist Hellmut Hattler und Gitarrist Peter Wolbrandt, gleichzeitig
die beiden Hauptsongschreiber der Band. „Ich suchte nach einem Wort, das
gut klingt“, erklärte Hattler später die skurrile Namensgebung.
„Wir wollten raus aus diesem Klischee und solch ein Wort wie Kraan taucht
fast in jeder Sprache auf.“ Passend dazu auch der musikalische Rahmen
der Band: Über einen rockigen Drum-Beat, perfekt ergänzt durch Hattlers
kraftvollen funky Grooves, zog Saxophonist Alto Pappert wunderschöne Melodien,
während Gitarrist Peter Wolbrandt mit ganz eigenem Sound und swingenden
Licks die Songs abrundete.
Kraan genossen das Leben einer musikalischen Kommune. Ein stillgelegtes Weidegut,
ein anno 1871 erbautes Fachwerkgebäude mit etwa 4000 Quadratmeter Land,
einsam am Rande des Teutoburger Waldes gelegen, war in den Siebzigern ihr Zuhause.
Das ehemalige Pferdegestüt hatte Graf Metternich den Musikern zur Verfügung
gestellt – kostenlos und ohne Bedingungen. Dort wohnten sie mit 13 Gleichgesinnten
(vier Musiker, der Manager, zwei Roadies, drei Frauen, drei Kinder und etliche
Katzen und Hunde). Hattler charakterisierte die Philosophie des Zusammenlebens
seinerzeit mit den Worten: „Es herrscht hier eine freundliche Anarchie.
Wir haben absichtlich keine Pläne gemacht, wer wann wo putzen muss oder
Spüldienst hat. Es ist natürlich ganz schön schwierig, weil wir
auf unsere eigene Einsicht angewiesen sind.“ Denn: „Wenn in der
Küche alles stimmt, geht auch die Musik in Ordnung.“
Im täglichen Leben zwar mit derlei Banalitäten konfrontiert entwickelte
sich die Band in den kommenden Jahren zu eine der außergewöhnlichsten
deutschen Formationen. Ihre dritte Veröffentlichung ´Andy Nogger`
(der Albumtitel beleuchtete den Konsumterror kritisch und war eine Anspielung
auf den Speiseeis-Werbeslogan ´Nogger Dir einen`) verkaufte sich 120.000
Mal. Das Werk erschien in Österreich, der Schweiz, Holland, Kanada, Australien,
England, Skandinavien und Südafrika und wurde vom deutschen ´Musikexpress`
zur Platte des Jahres gekürt. Bereits vier Wochen nach Veröffentlichung
in Amerika rangierte das Album in den Billboard Charts auf Platz 9 der meistgespielten
LP´s aller US-Sender. Nach drei Studiowerken wurde im Oktober 1974 im
Berliner ´Quartier Latin` ihr Doppelalbum ´Kraan Live` mitgeschnitten,
eines der herausragenden Jazzrock-Alben jener Tage, das vom legendären
Produzenten Conny Plank aufgezeichnet und bearbeitet wurde. Nach einem umjubelten
Auftritt beim Roskilde Festival in Dänemark im Juni 1975 ersetzten Kraan
den ausgestiegenen Alto Pappert durch den Pianisten/Organisten Ingo Bischof.
Mit dem folgenden, ebenfalls großartigen ´Let It Out` Album, das
mit einem mobilen Studio in Wintrup, quasi zwischen Pferdestall und Küchenherd
von Conny Plank produziert wurde, avancierten Kraan im Magazin ´Sounds`
zur Gruppe des Jahres. Auch der ´ME` fand Gefallen an der Band: „Lange
Kollektiv-Improvisationen zwischen Jazz, Rock und Blues werden mit spielerischer
Leichtigkeit für ein paar Takte von arrangierten Teilen unterbrochen“,
schrieb das Magazin im November 1975. „Da zeigt sich echtes Können
und die Kraan-Leute verwirklichen ihre ausgefallenen musikalischen Ideen mit
derart viel Einfühlungsvermögen und Präzision, als wollten sie
augenzwinkernd an den Genius eines Frank Zappa erinnern.“
Nach ´Let It Out` begann für Kraan eine neue Zeitrechnung. Die beiden
folgenden Alben ´Wiederhören` (1977) und ´Flyday` (1978), speziell
aber das 83er Opus ´Nachtfahrt` (dazwischen liegt noch die Veröffentlichung
des zweiten Live-Albums ´Tournee`), reflektierten den geänderten
Zeitgeist. Die Neue Deutsche Welle zog in die deutsche Musiklandschaft ein.
Von ihr blieben auch Kraan nicht unbeeinflusst. Und umgekehrt. Hattler: „Viele
dieser Bands waren Kraan-Fans, und waren von dem, was wir auf ´Flyday`
machten, vor allem von Peters Arpeggio-Gitarrenstil, beeindruckt und ließen
diese Elemente auch in ihre Musik einfließen. ´Nachtfahrt` dagegen
war unsererseits eine mehr oder weniger ironische Auseinandersetzung mit der
damaligen Musikszene.“ Echte Kraan-Scheiben waren beide Veröffentlichungen
indes nur teilweise, sondern eher – wie Hattler es nennt – „jeweils
zur Hälfte Solowerke von Peter und mir.“ Als kreative und produzierende
Band wie zu Wintrups Zeiten existierten Kraan zum damaligen Zeitpunkt nicht
mehr; die Aktivitäten der Gruppe beschränkten sich auf Tourneen in
wechselnden Besetzungen bis zum Jahr 1984. Danach sollte endgültig Schluss
sein, aber schon 1988 erschien das dritte Bühnenwerk ´Live ´88`,
gefolgt von den beiden letzten Studioalben ´Dancing In The Shade` und
´Soul Of Stone`.
Mit einem Auftritt 1992 auf der ´Dokumenta` in Kassel schloss die Kraan-Historie
für das fast komplette Jahrzeht der 90er Jahre.
Hattler setzte seine Karriere mit dem bereits auf den letzten Kraan-Veröffentlichungen
zu hörenden Trompeter Joo Kraus in der Formation Tab Two fort, Wolbrandt
widmete sich seinem erlernten Beruf als Graphiker und Programmierer und erst
anlässlich des dreißigjährigen Kraan-Jubiläums reformierte
sich die Band im Frühjahr 2000 in der Besetzung Hattler, Wolbrandt, Bischof
und Fride, veröffentlichte die beiden Jubiläumskonzerte (´Live2001`),
spielte eine überaus erfolgreiche Deutschlandtournee und veröffentlichte
Ende Juni 2003 ihr Comeback-Album ´Through`, das auf wundersame Weise
nahtlos an alte Tugenden anknüpft, ohne dabei etwa angestaubt oder vom
Zeitgeist überholt zu klingen. Und Kraan 2006? Auch heute ist diese unverwechselbare
Band noch (oder wieder) ein Füllhorn an Kreativität und Musikalität,
von der wir garantiert weitere Alben erwarten dürfen.
Wann und wo? Eigentlich fast egal, denn diese Band scheint sowieso keinerlei
Zeitschema zu unterliegen...
Matthias Mineur